Marxismus im 21. Jahrhundert. Teil 1.

Plakat aus der Sowjetunion. Der Schriftzug besagt: “Das Volk und die Armee sind Eins!”

Anm. d. R.:

Russland ist der Nachfolger der Sowjetunion. Die Sowjetunion war das erste marxistische, sozialistische, kommunistische, rote Projekt der Welt. Das Ziel war einfach – eine gerechtere Gesellschaft, frei von Ausbeutung. Es entfachte die Leidenschaft und eine massive historische Bewegung. Sozialistische Revolutionen folgten der Sowjetunion in China, Vietnam, Kuba, und noch viele weitere. Es existieren viele verschiedene Mythen und Lügen über die Sowjetunion, es ist jedoch eine historische Objektivität, dass ohne die Sowjetunion unsere Welt heute ganz anders aussehen würde. Der Sieg über den Faschismus, der Aufbau einer radikal-anderen (über die noch viel geschrieben werden muss) Gesellschaft, die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges, all das sind Errungenschaften der Sowjetunion. Die Sowjetunion basierte sich auf einem der einflussreichsten Werke des 19. Jahrhunderts – die Werke von Karl Marx über den Kapitalismus. Doch seit der Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg, ist seine Rolle eher gering. Die europäische Linke ist zerstreut wie nie zu vor, reale Alternativen der Gesellschaftsbau existieren nicht, und die Diskussion der Gesellschaftsprobleme und Lösungsvorschläge im 21. Jahrhundert werden allein den Rechten Kräften überlassen.

Um jedoch eine Lösung vorschlagen zu können, muss erst einmal eine das Problem des Marxismus im 21. Jahrhundert besprochen werden.  Russland hat, als Nachfolger der Sowjetunion, von Definition aus einen tieferen Blick in diese Probleme und ihre Darstellung. In diesem Artikel wird erstmals auf Deutsch die neusten Überlegungen von einem der führenden russischen Marxisten und Politologen, S. Kurginyan, zu dieser Thematik dargelegt. 

In dieser Serie von Artikeln werden wir die marxistische-kommunistische Problematik  besprechen. Wir sehen den Kommunismus als Befreiung und Erwecken der schöpferischen Fähigkeiten in jedem Menschen. Im letzten Artikel haben wir den Kommunismus als neue Gesellschaftsart besprochen, die sich radikal von allen anderen Gesellschaftsarten unterscheidet, die uns aus der Geschichte der Menschheit bekannt sind.

Das liegt daran, dass jeder uns bekannte Gesellschaftstyp dem Prinzip des wechselseitigen Fressen und gefressen werden unterlag. Nicht so der Kommunismus. Der ist nur mit der Aufhebung des Prinzips des wechselseitigen Auffressens möglich. Und das bedeutet auch nicht, dass man sich von jeglicher Entwicklung, insbesondere der wissenschaftlichen und technologischen, abwenden muss. Ganz im Gegenteil, Entwicklung, sowohl technische als auch wissenschaftliche, ist absolut notwendig für den Kommunismus, da sie die Voraussetzung für eine radikale Humanisierung der menschlichen Gesellschaft darstellt. Gerade weil die Aufhebung des Prinzips des gegenseitigen Fressens und Aufgefressen werden eine grenzüberschreitende, radikale, fast undenkbare Humanisierung der Menschheit ist (die Lösung des tierischen vom menschlichen).

In diesem Kontext waren die Marxisten an der vordersten Front: sie haben den Kampf für Befreiung und Erweckung der höchsten schöpferischen Fähigkeiten jedes Menschen angeführt (die Errettung des vom Kapitalismus ermordeten Mozart in jedem Menschen, wie bereits Saint-Exupéry gesagt hatte). Diesen Kampf haben sie zusätzlich noch mit dem Kampf für die Verwandlung des Wachstums der Produktionsfaktoren in ein Mittel für den Aufbau einer Gesellschaft,, die nicht auf dem Prinzip der gegenseitigen Fresserei basiert, verbunden. Und diese beide Aspekte – Befreiung und  Erweckung der höchsten schöpferischen Fähigkeiten des Menschen UND die Verwandlung des Wachstums der Produktionsfaktoren in die Grundlage des Gesellschaftsbaus – zeigen den Marxismus als höchste Äußerung des lebensbestärkenden Willens.  Der Wille, ohne den es unmöglich wird, den destruktiven Tendenzen entgegenzuwirken, die von der Neuheit der menschlichen Möglichkeiten geschaffen werden die sich mit der bestehenden Versklavung des Menschen durch die „natürliche Notwendigkeit“ verbinden.

Heißt das, dass wir die restlichen Probleme der Marxistischen Problematik  nicht zu besprechen brauchen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht möglich, wenn wir die Problematik nicht erst einmal aufzeigen. Wie kann man entscheiden, ob man etwas besprechen soll, ohne eines klaren Verständnis dessen, was dieses Etwas eigentlich ist?

In diesem und den nächsten Artikeln werden wir die Schlüsselthemen des Marxismus besprechen, die außerhalb Russlands fast gar nicht besprochen werden.

Das Problem Nummer 1 ist eindeutig das Problem der sogenannten Entfremdung. Wir werden sie irgendwann ausführlicher besprechen. Es sollte aber angesprochen werden, dass Marx die Ausbeutung nur als Mittel der Unterwerfung der Sklaven durch die Herren betrachtet. Die Ausbeutung bedeutet die Beschlagnahme  eines wesentlichen Teils der Produktion der Sklaven , die von ihnen selbst hergestellt wurde.

Der restliche Teil des Produktes wird den Sklaven ungefähr so zurückgegeben, wie der Herr während eines Fests dem Hund einen abgenagten Knochen abgibt. Im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gab der Herr seinem Sklaven, der bis zur Rolle eines Hundes erniedrigt wurde, einen sehr kleinen Knochen. Und der Sklave konnte nicht vollwertig existieren, denn der Nährwert des Knochens war empörend niedrig.

In solchen Fällen ist es unzulässig, darüber zu diskutieren, dass der Mensch nicht vom Brot alleine lebt. Natürlich lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Wenn jedoch dieses Brot für die Ernährung nicht ausreicht und der Hunger  zum wahren Herrn wird, so ist es die Pflicht eines jeden, der zur wahren Barmherzigkeit fähig ist, gegen die Ausbeutung aufzustehen, die das Weinen der hungernden Kinder und die physischen Mängel der hungernden Erwachsenen verursacht.

Der Kampf der Kommunisten gegen diese ungeheuerliche Ausbeutung, die dieses Weinen und diese Mängel der Erwachsenen verursachte, führte dazu, dass die Herren in westlichen Ländern anfingen, den Sklaven, die immer noch als hundeähnliche Wesen betrachtet wurden, recht üppige Knochen abzugeben. Darüber sprechen die Lästerer der Kommunisten und des Kommunismus in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oft: „Hört doch mit eurem Quatsch über unglückliche Hungernde auf! Schaut die Arbeiter im Westen an! Sie sind satt und gepflegt! Der Kapitalismus hat das Problem der Ausbeutung gelöst, zumindest im Westen. Und ihr sagt, dass er das nicht lösen kann.“

Also erstens wurde das Problem nur deswegen gelöst, weil die Sowjetunion und ein globales sozialistisches System existierten, also wegen der Systemkonkurrenz. Damit die Arbeitenden sich nicht auf ein sowjetisches, sozialistisches Modell umorientierten, hatte der Kapitalismus ein neues eigenes Modell geschaffen – die Konsumgesellschaft. Die Konsumgesellschaft wurde aber nur als temporäre Abhilfe geschaffen, um den Kalten Krieg gegen die UdSSR zu gewinnen.

Die Konsumgesellschaft ist ein Mittel der Bestechung der Arbeitenden im Westen. Sie mussten bestochen werden, damit sie sich nicht auf ein sozialistisches Modell umorientierten.

Das sozialistische-sowjetische Modell wurde im Zuge des Kalten Krieges vernichtet. Und jetzt haben die Arbeiter im Westen keine Möglichkeit, sich umzuorientieren. Es tritt die Frage auf: muss man denn immer noch die Arbeiter bestechen? Und kann man das Bestechen überhaupt fortsetzen, wenn es in Südostasien Milliarden von Herstellern gibt, die bereit sind, aktiver zu arbeiten, ohne bestochen zu werden?

Ja, es ist zur Zeit schwierig sich von der Bestechung der westlichen Arbeiter zu trennen, denn die Arbeiter haben sich bereits an die Konsumgesellschaft gewöhnt. Schwierig bedeutet aber nicht, dass man sich von dieser Bestechung nicht verabschieden wird. Und es ist auch unmöglich, diese Trennung nicht durchzuführen, ohne den kapitalistischen Wettbewerb mit China, Vietnam, Indien usw. zu verlieren. 

Das Wichtigste ist jedoch nicht die Frage, ob die Arbeiter im Westen weiterhin bestochen werden, indem sie  mehr oder weniger nahrhafte Überbleibsel vom Tisch des Herrn bekommen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob das Modell der Herrschaft, dem zufolge die Arbeiter nur Hunde unter dem Tisch des Herrn sind, die von den konsumierenden Herren mehr- oder minderwertige  Überbleibsel bekommen dürfen, abgeschafft wird. Die Frage nach einem Paradigmenwechsel ist das Wichtigste.

Werden die Arbeitenden weiterhinauf die Rolle solcher Hunde herabwürdigt, oder, anders gesagt, als Menschen zweiter Klasse behandelt, so wird die Nahrhaftigkeit der Überbleibsel, die diese Quasihunde bekommen, nichts Wesentliches an ihrem Status ändern. Die Menschheit braucht solche Mengen  Arbeiter nicht mehr. In 20-30 Jahren werden sie noch radikaler durch Maschinen abgelöst. Wenn die Arbeitenden immer noch als Untermenschen angesehen werden, so verwandeln sie sich sehr schnell in unnötige, überflüssige Untermenschen. Und werden als solche einfach liquidiert.

Im Jahre 1848 war das wichtigste Problem die Beschlagnahme des großen Teils des von den Menschen hergestellten Mehrproduktes, d.h. ihre herabwürdigende, beleidigende hungrige Existenz.

Aber im Jahre 2048 wird das aktuellste Problem die Überflüssigkeit dieser Menschen sein. Das heißt nicht die Notwendigkeit einer Überführung in eine hungrige Existenz (wie es 1848 war), sondern einfach nur ihrer Vernichtung.

Entweder hören diese Menschen auf, überflüssig zu sein, was nur der Realkommunismus erreichen kann, oder sie werden vernichtet, was nur der Realfaschismus realisieren kann. Freunde, das ist die neue Problemstellung des 21. Jahrhunderts.

Das Wesen der Zeit
Quelle: https://gazeta.eot.su/article/marksizm-xxi 

 

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